Publizist FREDI SAALs Stellungnahme zur Aufarbeitung der „HEIMKINDERPROBLEMATIK“
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ACHTUNG ! - Sehr langer, aber sehr wichtiger Text ! ]
Fredi Saal, Vordenker der Selbsthilfebewegung und Interessenvertretung von Menschen mit Behinderungen
»»»[ 27. November 2008 ]
Fredi Saal
DAS DASEIN EINES JEDEN INDIVIDUELLEN MENSCHEN STELLT SICH ALS EINZIGARTIG DAR. WIE SOLLTE ES SICH IN REIN WISSENSCHAFTLICHEN STATISTIKEN WIEDERFINDEN KÖNNEN?
Zur Frage einer Aufarbeitung von Lebensverläufen im Rahmen der Heimerziehung der Nachkriegszeit 1945 - 1972
Aufgeschreckt durch heftige Reaktionen von ehemaligen jugendlichen Insassen zumeist christlicher Erziehungsheime, welche mit ihren Klagen über unhaltbare Zustände in den einstigen Häusern ihrer Kinderzeit imageschädigend in die Öffentlichkeit drangen und damit eine unangenehme Aufmerksamkeit zu erregen drohten, haben sich die in Frage gestellten Institutionen akademischer Unterstützung versichert. Damit ihr guter Ruf nicht allzu sehr leidet.
Diese Methode ist sattsam bekannt: Geht es um unangenehme Nachfragen, zumal in der Sozialpolitik, Erziehung, Arbeitsvermittlung, Unterstützung mittelloser Bürger, Versorgung der Kranken, Bedingungen einer humanen Pflege von Hilfsbedürftigen, im Falle von nicht mehr überhörbaren Protesten wird (vielfach zum wiederholten Mal) ein Ausschuss zu einer streng wissenschaftlichen Klärung berufen. Erregte Gemüter werden damit vorerst einmal beruhigt. Danach wird man weiter sehen. Dann erscheinen geraume Zeit später mehr oder weniger abwiegelnde Ergebnisse und werden sodann oft rasch ohne großen Aufwand zu den Akten gelegt. Im günstigsten Fall erscheinen noch in den Tagesnachrichten Meldungen mit kommentierenden Texten die schnell wieder vergessen sind. Schwamm drüber!
Nun also auf ein Neues. Es soll jetzt um die »Erforschung der Kirchlichen Heimerziehung in der frühen Bundesrepublik Deutschland (1945 - 1972)« unter Leitung von zwei bestellten Professoren gehen. Seit vielen Jahren schon melden sich ehemalige Zöglinge(!) kirchlicher Einrichtungen zu Wort, indem sie die Zustände von damals bitter beklagen. Bestimmt nicht zu Unrecht, wie jeder weiß oder zumindest wissen kann, der zu jener Zeit nur einigen Einblick hatte. Aber natürlich bestreiten dies die angegriffenen Anstalten und ihre Träger. Das ist ja auch keineswegs so unverständlich, wie es manchem vielleicht erscheinen mag. Denn welcher Mensch gibt schon gern, und dazu noch freiwillig, mit wirklich aufrichtigem Bedauern die nun einmal leider unterlaufenen eigenen Versäumnisse zu – besonders dann, wenn man, wie in der christlichen Erziehung, recht hohe ethische Ansprüche an sich selbst stellt?
Da kann es leicht geschehen, dass bereits verhältnismäßig kleine Vorwürfe auf eine äußerst heftige Abwehr stoßen. Das deutet allerdings darauf hin, dass selbst dem Personal unwohl war bei manchen Erziehungsmaßnahmen. Etwa der berüchtigten Strafe »eine Glatze schneiden«. Regelmäßig wurde sie verhängt, wenn wieder einmal ein Bewohner der Station das Weite suchte, »Auskratzen« genannt. Dieses immer wieder praktizierte Weglaufen aus der geschlossenen Einrichtung – fast sämtliche Türen ohne Klinken – war eigentlich auch kein Wunder. Wie Sträflingen bekamen die Missetäter den Kopf völlig kahl geschoren. Das darf aber heute nicht mehr wahr sein. Noch Jahrzehnte später wird hierauf mit dem empörten Vorwurf einer puren Unwahrheit geantwortet, obwohl beide Parteien doch damals bei dem Geschehen vor versammelter Mannschaft nach dem siebentägigen Aufenthalt in der Einzelzelle auf der Knabenstation persönlich zugegen waren, oder doch bald danach das Ergebnis in persönlichen Augenschein nehmen konnten. Es mag ja sein, dass sich ihnen die Erinnerung tatsächlich verweigert und sie tatsächlich daran glauben müssen, der Bösartigkeit eines undankbaren Ehemaligen aufzusitzen. Übrigens wird in der geplanten Untersuchung statt von »Glatze scheren« stark verharmlosend von »Haare schneiden« gesprochen. Dies ist nicht harmlos, sondern grob irreführend. Es klingt vollkommen harmlos nach: Haare pflegen, – und ist dies nicht ganz normal? Was soll schon dagegen sprechen? Da kann man doch deutlich sehen, welch Geistes Kinder die Ankläger sind.
In der Psychologie spricht man bei dergleichen bekanntlich seit Sigmund Freud von Verdrängung. Doch wie bereits gesagt: Das ist an sich einigermaßen verständlich, aber ändert nichts an dem Unrecht gegenüber den Betroffenen, welche durch Herkunft wie durch erlittene Traumata im der Kindheit sowieso schon am kürzeren Hebel sitzen. Eigentlich wurde das recht deutlich am Fernsehfilm der ARD zu diesem Thema - in welchem nebenbei bemerkt der selbstgefällig wirkende Rechtsvertreter der betreffenden Erziehungshäuser eine recht fragwürdige Figur abgab. Er trat vor die Presse und kündigte eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft gegen die aufbegehrenden Ehemaligen an, wegen versuchter Täuschung und der Erschleichung von Mitteln aufgrund des Gesetzes der Entschädigung von Opfern erlittenen Unrechts. Dass er damit sogar durchkam und den Verurteilten unter Androhung eines Zwangsgeldes weitere Versuche in dieser Angelegenheit verboten wurden, macht die Sache keinesfalls besser. Der Eindruck von eiskalter Abservierung konnte auf diese Weise nicht ausgeräumt werden. Denn zu klar trat zu Tage wie geschädigt die ehemaligen Heimkinder waren. Wo lediglich ein klein wenig Verständnis und Einfühlung gefragt gewesen wäre, fügten ihnen Maßnahmen mit den Mitteln der Strafjustiz nur weiteres Unrecht zu.
Diesem eindeutig negativ besetzten Eindruck versucht man mit der in Aussicht gestellten Untersuchung gar nicht ungeschickt auszuweichen. Denn gegen ein rein wissenschaftliches Forschungsprojekt ist schließlich erst einmal überhaupt nichts einzuwenden. Im Gegenteil. Diese bewährte Methode steht in hohem Ansehen. Denn hinter ihr steht ja der gute Ruf von Lehrstuhlinhabern einer Universität. In ihr lassen sich in elegant geschnürten Paketen wissenschaftlicher Aufarbeitung individuelle Zurechnungen zum Verschwinden bringen. – Auf der Seite des Opfers nicht weniger als auf der des Verantwortlichen. Der eine, der konkrete Einzelne bleibt dabei mit seinem Trauma zumeist mutterseelenallein (an ihm bleibt vielmehr die ehrenrührige Unterstellung hängen, nichts als ein mieser und infamer Betrüger zu sein) während der andere – als ein Vertreter der caritativen Institutionen – sein reines Gewissen behält, jedenfalls in den Augen seiner gutbürgerlichen Mitwelt. Fragt dann ein Autor wie Peter Wensierski in seinem Buch „Schläge im Namen des Herrn - Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik“ konkreter nach, wird ihm zwar bereitwillig bescheinigt, sich bedeutende Verdienste durch seine Hinweise auf diese noch weit offenen Fragen erworben zu haben. Zugleich wird ihm aber ein problematisch mangelnder Umgang mit den Methoden einer wissenschaftlichen Aufbereitung angelastet. Ja, was denn nun? Soll sich etwa der sowieso schon Traumatisierte selbst wie einst der Baron Münchhausen gefälligst am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen – in diesem Fall aus dem Sumpf seines oft maßlos angewachsenen Haufens seelischen Elends? Wenn das nicht einer geradezu unerträglichen Verhöhnung gleichkommt, was bitte dann?! Muss daraus nicht beinah zwangsläufig ein Symptom entspringen, wie es neuerdings in der Psychiatrie unter dem Begriff »Verbitterungskomplex« beschrieben und als eigenständiges seelisches Krankheitsbild herausstellt wird?
Vermutlich ist das überhaupt nicht beabsichtigt – faktisch jedoch wirkt es sich als eine Art Verhöhnung aus. Jedenfalls zeigt dies doch recht anschaulich den abgrundtiefen Graben, der zwischen den »Betreuten« und ihren »Betreuern« sowie deren akademischem Begleittross liegt. Welten trennen diese Menschengruppen voneinander. Hier jene, welche häufig genug als völlig verroht und heruntergekommen empfunden werden, eben typische Abkömmlinge einer mehr oder weniger ungebildeten Unterschicht – dort jene, die ihnen wenigstens einigen Anstand beibringen wollen. Die Erzieher und ihre wissenschaftlichen Begleiter, die in aller Regel aus besseren Gesellschaftsschichten stammen, gehen offenbar davon aus, dass man hier leider nicht so einfühlsam vorgehen kann, wie bei Kindern aus ihrem Umkreis. Hier bedarf es vielmehr einer harten Hand. Eine andere Sprache wird leider nicht verstanden. Nachsicht würden sie bloß missverstehen, weil leisere Töne einfach nicht ankommen.
Interessanterweise kennt das vorgelegte Konzept der geplanten Untersuchung lediglich Fürsorgezöglinge und Waisen. Klingt das nicht ein wenig nach einer Unterteilung in Teufel und Engel? Wo bleiben denn alle anderen, wie z.B. die Behinderten mit unterschiedlichen Einschränkungen? In welche Kategorie dürfen sie sich denn einreihen? Und vor allem: Wie will der akademische Untersucher all jenen Klienten auch nur annähernd gerecht werden, deren Lebenswelten meilenweit von der seinen entfernt liegen? Darf er sich überhaupt ein Urteil über Lebensumstände erlauben, die er doch kaum kennen kann? – Ob er jemals einen einzigen Gedanken daran verwandt hat, wie er sich selber wohl fühlen würde, müsste er unter vergleichbaren Bedingen aufwachsen? Ist es zu gewagt, ihm zu unterstellen, dass es ihm auch beim besten Willen gar nicht möglich sein kann, sich da hineinzudenken?
Schauen wir uns einmal an Hand des vorgegebenen Untersuchungsauftrags genauer an, wie denn eine solche wissenschaftliche Aufarbeitung aussehen soll, um der Diskussion »Zwischen Skandalisierung und pädagogischer Reformdebatte« gerecht zu werden. Kaum niedergeschrieben, meldet sich bei diesem Satz bereits die verwunderte Frage: Geht es nicht um die Klagen der ehemaligen Heimbewohner, eine über weite Strecken sehr ungerechte und lieblose Kindheit durchlaufen zu haben? Was interessiert diese vielfach verbitterten Zeitgenossen der pädagogische Impetus, der hinter ihren Schreckenserlebnissen steht?
Sie [ die ehemaligen Heimbewohner ] erwarten zunächst einmal lediglich das eine: Dass man ihre Empfindungen ernst nimmt. Es mag gut sein, dass es sich auf der Seite des jeweiligen Betroffenen um bedauernswerte Missverständnisse handelt. Dann muss man versuchen, darüber zu reden, ihm nicht von vornherein pure Böswilligkeit zu unterstellen, sich nicht stur auf pädagogische Prinzipien zu berufen, ihm nicht womöglich den Kadi auf den Hals zu schicken. Andererseits darf man selbstverständlich eine dem entsprechende Souveränität von psychisch oft schwer Geschädigten nicht erwarten. Dazu sind sie zu beengt aufgewachsen, mussten um jedes kleine Stück an Lebensraum kämpfen, im Kreise anderer liebeshungriger Kinder um Zuwendung buhlen, was, das sei zugegeben, von den überlasteten Betreuern – zumeist frommen Schwestern – überhaupt nicht geleistet werden konnte.
Das gilt es klar zu sehen und anzuerkennen, anstatt die enttäuschten Jungen und Mädchen nur als undankbare Geschöpfe hinzustellen. Von den unter solchen ungünstigen Umständen Heranwachsenden ebenso wie von den inzwischen erwachsen gewordenen lassen sich billiger Weise derartige Einsichten erst einmal nicht erwarten. Das sei mit allem Nachdruck wiederholt. Sie sind mit solchen Erwartungen rettungslos überfordert. Selbstverständlich – auch die andere Seite hat es nicht leicht. Es ist eben nicht einfach sich selbst das eigene Ungenügen einzugestehen. Wiederum: wenn selbst die Verantwortlichen nicht imstande sind, selbstkritisch mit dem eigenen Verhalten umzugehen, würde das nicht zugleich bedeuten, dass sie mit ihrer Aufgabe überfordert sind? Sollten sie nicht als aufmerksame Begleiter freundlich zugewandt beobachten und wirklich nur bei drohender Gefahr möglichst behutsam korrigierend eingreifen? Immerhin treten doch die letztlich zuständigen Institutionen mit dem hohen Anspruch an, Fachleute mit diesen verantwortungsvollen Aufgaben zu beauftragen, welche weit über den Standard von Gefängnisaufsehern stehen. Es handelt sich ja zumeist um besonders empfindsame Heranwachsende, denen so gut wie jegliches Urvertrauen abhanden kam. Dieser Verlust ist auch kaum zu vermeiden, wenn ein Kind dem gewohnten häuslichen Rahmen plötzlich entrissen wird. Die geplante wissenschaftliche Aufarbeitung kann mit ihrer Formelsprache diese Tatsachen nur barmherzig zudecken, indem sie den belasteten Einzelnen ganz einfach verschwinden lässt.
Ist es wirklich verwunderlich, dass es zu der beklagten »starken Polarisierung zwischen Befürwortern und Gegnern der Heimerziehung« kam, ja unweigerlich kommen musste? Nein, ganz gewiss nicht. Denn hier treten sich höchst elementare Gegensätze gegenüber. Die einen haben – jedenfalls in ihrem Selbstverständnis – eine Menge zu verlieren. Hegen sie doch den Anspruch, das einzig Richtige zu vertreten, während sich die anderen hiervon vergewaltigt fühlen. Die Empfindung von Heimat, wie sie ursprünglich mit dem Begriff Heim gemeint war, vermag erst gar nicht aufzukommen. Vielleicht war deshalb die Bezeichnung Anstalt um einiges aufrichtiger, weil sie gar nicht erst den Anspruch erhob, so etwas wie Heimat zu ersetzen. Diese Einrichtungen gingen ja ursprünglich auf kleine Einzelinitiativen zurück, die ergriffen wurden, um einer aktuellen Notsituation zu begegnen. Später wurden sie mehr und mehr fast zum Selbstzweck. Jedenfalls war von Fürsorgeerziehung damals wohl noch kaum die Rede. Denn es galt erst einmal im kleinen, dazu persönlichen Rahmen Bedingungen zu schaffen, in dem die wie auch immer Bedrohten aufgefangen werden konnten. Eigentlich stellt es eine Tragik dar, dass diese individuellen Impulse eines warmherzigen Anfangs regelmäßig ins zwangsläufig kühl rational planende Prinzip eines Großunternehmens der Barmherzigkeit – zu einer Anstalt, heute vielfach verschämt auch Stiftung genannt – also einer vermeintlich christlich geprägten Humanität auswachsen musste. Der Familiencharakter ging damit unrettbar verloren.
Vermutlich war auch diese Entwicklung hin zu einem ausgeprägten Dienstleistungsbetrieb in Sachen sozialer Zuständigkeit für die Betreuung und die Erziehung von schwierigen Außenseitergruppen der Gesellschaft wie Kranke, Behinderte, Verhaltensauffällige, kurz gesagt, arbeitsunfähige sowie störende Zeitgenossen damals wohl auch kaum aufzuhalten. Nur, mit dieser profanen Zuschreibung mochten sich die betreffenden Einrichtungen nicht abfinden. Sie pochten auf ihr christliches Ethos und durften dann nicht – vor allem sich selbst gegenüber – zugeben, wenn sie an den eigenen Idealen scheiterten. Gänzlich unreflektiert waren und sind sie immer noch dergestalt ihren Verdrängungen ausgeliefert, nicht einmal dazu fähig, selbstkritisch oder wenigstens ein wenig erschrocken danach zu fragen, wie es zu solchen bitteren Anschuldigungen kommen kann. Gerade auch dann, wenn man glaubte, mit den besten Absichten gehandelt zu haben. So aber entsteht der fatale Eindruck, als sollte es heißen: »Aber nein, wir machen keine Fehler«. Was nicht sein darf, kann einfach nicht sein. Folglich kann es einzig an dem schlechten Charakter der (ehemaligen) Zöglinge liegen. Beweis: Ansonsten wären sie ja kaum in einer Einrichtung der Fürsorgeerziehung gelandet. Unterschicht bleibt eben Unterschicht. Punktum!
Wie bekannt, regte sich dagegen sich ein unerwartet starker Widerstand, der sich jetzt nicht mehr einfach ignorieren lässt. Deshalb der kluge Einfall, sich akademische Unterstützung ins Haus zu holen. Kaum zu Unrecht dürfte man darauf hoffen, Beistand von Gleichgesinnten zu erfahren. Es ist schwer zu übersehen, dass es sich um Schwestern und Brüder im Geiste handelt. Denn das verantwortliche Personal der Heime entstammt, nicht anders als die universitären Forscher zumeist aus »besseren« Kreisen. Sie besitzen also ein gemeinsames Interesse, Licht ins Dunkel dieser für sie unangenehmen Angelegenheit zu bringen. Gewiss, das kann man ihnen schlecht zum Vorwurf machen. Ihre Namen spielen darum – zumindest in diesem Zusammenhang – eine ziemlich untergeordnete Rolle. Ganz im Gegenteil. In diesem Falle geht es weit mehr um ein äußerst verhängnisvolles Prinzip - treffen hier doch Zeitgenossen aus Ebenen der Gesellschaft aufeinander, die sich gemeinhin recht fremd gegenüber stehen. Sie werden sich im Alltag auch kaum jemals freiwillig von Mensch zu Mensch begegnen. Und wenn doch, dann ziemlich einseitig, nämlich aus der Sicht eines Richtung weisenden, sich überlegen gebenden, auf seine eigenen Prinzipien und seine eigene Moral pochenden (Bildungs-)Bürgertums. Seine Vertreter haben jedoch selten etwas mit den Erfahrungen der »Nicht gebildeten« gemein.
Deshalb noch einmal die zentrale Frage: Wie will man diesem entscheidenden Faktor auch nur annäherungsweise gerecht werden? Akademiker, die meistens einer gehobenen sozialen Klasse – einer Elite – entstammen oder sich ihr zumindest weitgehend zugehörig fühlen, müssten – jedenfalls ihren eigenen wissenschaftlichen Ansprüchen entsprechend – mit ihren Urteilen selbstkritisch diesen Angehörigen der anderen Bevölkerungsgruppe, die ihnen im Grunde recht fremd sind, erst einmal vorsichtig nähern, sie verstehen lernen. Dann erst könnten sie sich ernsthaft mit ihnen auseinander setzen. Aber im Gegenteil – so jedenfalls sieht es aus – ergreifen sie einseitig Partei für diejenigen, welche die Werte und Grundsätze ihrer eigenen Schicht, des bürgerlichen Mittelstandes, vertreten. Sicher, es wird gar nicht abgestritten, dass es »Skandale um die Fürsorgeerziehung« gab, sich auch »autoritär-disziplinierende Heimerziehung nachweisen« lässt. Direkt anschließend aber heißt es anklagend und abqualifizierend: »die mediale Berichterstattung, die Milieugebundenheit der jeweiligen Berichte . . .« und dann: »Während vor allem Berichte aus dem Spektrum der politischen Linken die Heimerziehung und bestimmte Erziehungsmethoden prinzipiell scharf kritisierten, wurden in der bürgerlichen und auch in der konfessionellen Presse die Formen der Heimerziehung grundlegend verteidigt.« Kunststück! Nach allem, was wir zuvor schon feststellten, birgt die Aussage über die konservative Haltung wohl kaum eine große Überraschung. Sie zeigt indessen, wo die Präferenzen der akademischen Forscher liegen. Zwar können sie nicht die Misstände bei der Durchsetzung »einer auf die strikte Einhaltung moralischer Normen setzende Erziehung« in Abrede stellen. Doch weisen sie höchst relativierend auf die Zeitumstände hin, in denen beispielsweise die Prügelstrafe noch als normales Erziehungsmittel galt – auch als sie eigentlich bereits verboten war. Dies mag so sein – oder nicht. An dem zentralen Problem geht es aber glatt vorbei. Das erlittene Unrecht, mit dem zahlreiche junge Seelen für ein ganzes Leben unrettbar verstört wurden, wird ohne jeden Kommentar hingenommen. Danach kräht kein Hahn.
Es stimmt ja, keine ernsthafte seelische Verletzung lässt sich so rasch beheben. Es bleibt allein die Hoffnung, dass die Zeit vielleicht über Jahre hinweg die schlimmsten Wunden allmählich heilt. Dies jedoch ist nur möglich, wenn man die Betroffenen nicht im eigenen Schlammassel stecken lässt und sie noch zusätzlich böswilliger Unwahrheit bezichtigt. Denn jeder, der Verantwortung für anvertraute Kinder und Jugendliche trägt, weiß – oder sollte es zumindest wissen – dass sich mit großer Wahrscheinlichkeit wenigstens ein wahrer Kern hinter den Äußerungen der Klagenden verbirgt. Das braucht nicht mit der konkreten Situation zusammenzuhängen. Reale Anlässe für das seelische Leiden lassen sich trotzdem oft nur schwer übersehen. Dem gilt es geduldig nachzugehen. Gerade dann, wenn sich die Verantwortlichen mit gutem Gewissen keiner Schuld bewusst sind.
Immerhin, einiges ist bereits gewonnen, wenn eventuelle Misstände in den verschiedenen Einrichtungen von den akademischen Untersuchern nicht gänzlich ausgeschlossen werden, und wenn sogar freimütig als ein Verdienst des kritischen Berichtes von Peter Wensierski hervorgehoben wird: »Die entscheidende Bedeutung dieses Buches besteht darin, dass es sich der Aufarbeitung der Traumata vieler Opfer stellt und damit das bisherige Desinteresse der privaten Wohlfahrtsverbände und Landesjugendämter wie auch der historischen Forschung in Frage stellt.« Aber das hilft nichts, wenn zugleich geringschätzig von »einer Grenze der Veröffentlichung von Wensierski« gesprochen wird, »dem es dezidiert nicht um eine historisch abwägende und sorgfältige Studie geht.« Noch einmal: Dies ist überhaupt nicht seine Aufgabe. Denn er will mit Recht dem jeweiligen Einzelschicksal nachspüren, um das es sich allein handeln kann. Behäbig abwiegelnde Argumente zu Gunsten der Einrichtungen gibt es schließlich mehr als genug. Sie rufen laut anklagend »Skandal«, indem sie darauf hinweisen: »Problematisch sind eine Anzahl von Pauschalisierungen, die in einem Schwarz-Weiß-Bild die damalige Situation zu erfassen versuchen und an vielen Stellen aufgrund der faktischen Pauschalkritik in der Gefahr stehen, nahezu alle in der öffentlichen Erziehung Mitwirkenden jener Zeit mit z. T. gravierenden Verdächtigungen zu konfrontieren.«
Die Einrichtungen – vor allem ihre Träger – wären damit fein heraus. Sie brauchen sich nicht verantwortlich zu fühlen, für all das, was in ihren Mauern und auf ihren Verbandsebenen geschah – und wahrscheinlich immer noch geschieht. Mit dem gleichen Recht müsste man – und so passierte es denn auch vielfach – sämtliche Klagen gegen das Unrecht des Nationalsozialmus unterbinden, da dies ungerechter Weise die Falschen treffen könnte. Wenn man nur wollte, wäre das kein großes Problem. Man müsste nur realistisch den menschlichen Faktor in Rechnung stellen. Dass sich kaum jemand gern und dazu noch freiwillig zu seinen Versäumnissen bekennt, wissen wir ja. Nur wenige vermögen eben die menschliche Größe aufzubringen, ihren schuldhaften Verstrickungen mutig und selbstkritisch ins Auge zu blicken und – soweit möglich – zur Linderung ihrer Folgen für den jeweils konkret Betroffenen beizutragen. Das heißt aber, nicht nur die ehemaligen Zöglinge können einer groben Fehleinschätzung zu unterliegen. Auch ihre Betreuer sind nicht davor geschützt. Sie haben ihre eigenen Interessen, unbequeme Wahrheiten zu unterdrücken – und dabei sitzen sie sogar noch am längeren Hebel. Denn wer glaubt schon einem Fürsorgezögling, obwohl gerade er nicht wenig Anlass hat, sich missachtet zu fühlen? Müsste dies nicht erst einmal auf die Waagschale einer einigermaßen gerechten Beurteilung gelegt werden? Und wäre es für die Institutionen nicht an der Zeit, eventuellen Opfern nach so langen Jahrzehnten wenigstens erst einmal pauschal, gewissermaßen »auf Verdacht«, ihr Bedauern zum Ausdruck zu bringen? – Den Traumatisierten, deren lebenslanges Leiden unter den Verletzungen selbst die bereitwilligsten Fahnenträger der Institutionen und die Vertreter eines recht hohen pädagogischen Ethos eingestandenermaßen nicht mehr ausschließen können – Das würde die Situation enorm beruhigen, wenn sie die sowieso schon verstörten Ehemaligen vom Verdacht befreiten, nichts anderes als bösartige Verleumder zu sein.
Forderungen der Institutionen und deren universitären Sekundanten, wie zum Beispiel der Satz: »Gegenüber diesen stark verallgemeinernden Thesen ist aus historischer Sicht eine deutlich differenziertere Betrachtungsweise einzufordern . . . « wollen das – wie es scheint – erst gar nicht dazu kommen lassen. Sie beabsichtigen vielmehr alles unter einen wissenschaftlichen Teppich zu kehren. Steht dahinter nicht etwas vergleichbares wie die unausgesprochene Begründung: Was damals geltendes Recht war, kann heute doch nicht auf einmal als Unrecht bezeichnet werden? Das Fazit also mit anderen Worten: Pech für die Betroffenen. Wir können doch unsere gut gemeinten Grundsätze nicht einfach in Frage stellen lassen! Deshalb: »ist eine fehlende sprachliche Präzision und mangelnde Differenzierung der in der Öffentlichkeit im Anschluss an Wensierski diskutierten Thesen kritisch anzufragen.« Aber wie denn: Beschreibt unser Autor nicht ganz konkrete Fakten, sind es nicht gerade die Forscher, die sie zu bloßen Thesen umwandeln, um sie als solche im Nebelösen der Statistik verschwinden zu lassen?
Es ist wohl wahr: Mögliche Misstände werden überhaupt nicht geleugnet, doch der jeweils konkrete Einzelfall geht einfach unter, etwa nach dem Prinzip: »Nichts Genaues weiß man nicht.« Mag der Einzelne sehen, wo er mit seinen psychischen Verletzungen bleibt. Hauptsache unsere Weste im Ganzen bleibt in der öffentlichen Meinung weiß. Im Zusammenhang mit der geplanten Untersuchung klingt dies folgendermaßen: »Wenn behauptet wird, dass Jugendlichen in der Heimerziehung „Unrecht” geschah, bleibt unklar, ob damit in erster Linie ein moralisches Fehlverhalten der Träger der Einrichtungen bzw. der Verantwortlichen in den Einrichtungen gemeint ist oder ob es sich um Gesetzesübertretungen handelte.« Als ob es dem Betroffenen, im Gegensatz zu den Verantwortlichen, nicht völlig egal sein kann, wem er seine erbarmungswürdige Lage letztlich verdankt. Für den Verantwortlichen wäre lediglich ein nachgewiesener Gesetzesbruch relevant. Alles andere bleibt von den damaligen Zuständen gedeckt, übrigens selbst dann noch wenn schon längst »einzelne Bestrafungsmethoden (. .) als pädagogisch höchst fragwürdig angesehen wurden, allerdings als rechtlich zulässig akzeptiert wurden«. Es handelte sich eben um ein Gewohnheitsrecht. Wie gut für die Strafenden – doch wo bleiben die mit diesen Strafen Gedemütigten? Wiederum: Leider einfach Pech gehabt? Darauf scheinen die akademischen Forscher keinen einzigen Gedanken verschwenden zu wollen. Hauptsache das System christlicher Erziehung leidet dabei möglichst wenig Schaden.
Christliches Ethos sollte eigentlich anders klingen. Darum: So leicht darf man es sich nicht machen. Es ist zwar verständlich, dass man das Werk der christlichen Barmherzigkeit und die in ihr Tätigen nicht gerne in Frage stellen lassen möchte. Doch der Einzelne darf dabei nicht wie ein beliebiger Gegenstand erzieherischer Bemühungen in Leid und Tränen unverstanden untergehen. Gerade den so arg Angeschlagenen sollte ein gewisses Recht auf Verständnis und liebevolle Unterstützung zukommen. Strafe ist dabei viel zu einfach – und zu billig. Immerhin geht es um konkrete Menschen – nicht um irgendwelche Prinzipien.«««
Und dieses zusätzliche Buchangebot ist einzig und allein meine Idee – "Ehemaliges Heimkind", Martin Mitchell’s Idee – damit die, die Fredi Saal, nicht kennen, sich auch daraust über ihn informieren können.
QUELLE: Buchangebot @
http://www.paranus.de/edition_hoddis/ed ... ollte.html
Fredi Saal
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Warum sollte ich jemand anderes sein wollen? - Erfahrungen eines Behinderten«
ISBN 3-926200-85-5
240 Seiten
14,80 Euro (30,00 sFr)
Neuausgabe 2002
QUELLE: Buchrezension @
http://www.sibylle-prins.de/rezensionen/saal.html
Fredi Saal:
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Warum sollte ich jemand anderes sein wollen? - Erfahrungen eines Behinderten«
Buchtipp von Sibylle Prins
Dieses Buch hat mich umgehauen. So stark ist es. Aber Vorsicht: es handelt sich nicht um "leichte Kost"! Der Autor, Fredi Saal, wird mit einer schweren Körperbehinderung geboren. Fälschlicherweise als geistig behindert eingestuft, landet er - gegen den Willen seiner Mutter - in einem sehr restriktiven und autoritären Heim für geistig behinderte Kinder. Einige der Pflegerinnen "entdecken", dass der Junge doch wohl "bildungsfähig" sei, und so erhält er wenigstens eine ansatzweise Beschulung, die aber, wie sich später herausstellt, für einen Menschen mit seinen Fähigkeiten und Interessen völlig unzureichend ist. Es gelingt ihm, über einige mühsame und mutige Umwege das Anstaltsleben hinter sich zu lassen, ein eigenständiges Leben aufzubauen, die ihm zustehende Bildung autodidaktisch nachzuholen, zeitweise berufstätig zu sein. Parallel gründet er eine Gruppe für junge Menschen mit und ohne Behinderungen, wird nach und nach zum Vordenker der Selbsthilfebewegung und Interessenvertretung von Menschen mit Behinderungen. Darüber hinaus ein bedeutender Schriftsteller. Ein wichtiger Lebenstraum geht noch in Erfüllung: er findet eine ebenbürtige Partnerin. Die Erzählung seines Lebenslaufes wird ergänzt durch vielfältige Reflexionen rund um das Thema "Leben in unserer Welt als Mensch mit einer Behinderung". [ .......... ]
QUELLE: Deutschlandfunk @
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/lang ... 91022.html
Literatur:
Fredi Saal
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Warum sollte ich jemand anderes sein wollen? - Erfahrungen eines Behinderten«
biographischer Essay Verlag Jakob van Hoddis, 1992
Heute kennt ihn fast jeder - Fredi Saal, den schwer Körperbehinderten, der uns hier seine Lebensgeschichte schenkt: Jahrgang 1935, als Kind in eine Anstalt für geistig Behinderte gesteckt, als nicht bildungsfähig eingestuft, der heute für die schwierigsten ethischen Fragen die richtigen Worte findet. Die Lektüre seiner Geschichte ist atemberaubend - zugleich ein Sittengemälde der Jahrzehnte der Nachkriegszeit der Bundesrepublik-, wie er unter unendlichen Mühen zwischen ebensoviel behinderten wie hilfreichen Menschen seinen Weg zu sich selbst und seinen Standort in dieser Gesellschaft findet.
Fredi Saal
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Leben kann man nur selber«
Texte 1960-1994
Verlag Selbstbestimmtes Leben 1994